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- Helmut R Leppien (Hamburger Kunsthalle)
- Wittwulf Malik - Gedanken zu Dieter Nestlers Hafen-Bilderwelt / Sehen und Hören
- Arne Rautenberg - In Hafensphären (Gedanken zu den Arbeiten von Dieter Nestler)
- Jürgen Schneyder Zeit-Geist und Uhr-Sachen
- Dieter Nestler - Jalousiebilder
- Dieter Nestler - Wasserspiegelungen
- Dieter Nestler - Container-Bilder
- Dieter Nestler - Werftblöcke
- Dieter Nestler - Werftstücke
- Dieter Nestler - Kleine Weltreise oder der Hafen als „Ready Made“

 


In Hafensphären (Gedanken zu den Arbeiten von Dieter Nestler)
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Die schöpferische Positionierung des 1936 in Stettin geborenen Materialkünstlers Dieter Nestler fällt eindeutig zugunsten der Mimikry aus: Seit vielen Jahren der Frachtgutwelt des Hamburger Hafens verfallen, hat Nestler seinen Blick für die ästhetischen Phänomene des im Hafen dominierenden Cargotums geschärft; der Hafen gilt dabei seit jeher als ein mächtiges Symbol: Er ist der Ort, von dem aus man ebenso in die Welt starten, bzw. an dem man mit jedem neu einlaufenden Schiff die Welt wieder vor die Füße gelegt bekommen kann; er ist ein Umschlagplatz für Waren, Wesen, Wissen, für Nahes und Fernes, ein Ort der ungeahnten Möglichkeiten, an dem sich Kreise schließen und der Weltgeist sich unmittelbarer und rascher entfesseln lässt als anderswo. Der Hafen ist eine nautische Daseinsmetapher, wie Hans Blumenberg es formulierte. Dieser magische Ort, mit seinen speziellen Codes und Zeichen, ist der inhaltliche und formale Ausgangspunkt der Arbeiten von Dieter Nestler. Hier sammelt er sein Bildmaterial sowohl im physischen, wie auch ideellen Sinn: die symbolhaften Firmenlabels und Cargo-Signets, die witterungsbedingten Container-Strukturen, Schablonen-Schriftsätze, Graffitis wie das der von Nestler gern eingesetzten "Waggon-Lilly" (das aufgegriffene Kritzelpiktogramm eines Frauentorsos); zudem nimmt er Fundstücke, etwa Konstruktionsrisse oder hölzerne Bootsbauschablonen als Bezugsgrößen mit in seine Arbeiten, Bilder und Skulpturen, hinein.

Selbst die Grundformen der Bilder sind durchtränkt von Hafenwirklichkeit: Ob rechteckig Containern nachempfunden, rund wie eine Kesselstirn oder sechseckig wie die Seiten riesiger Abfallbehälter – Dieter Nestler bannt in seinen Bildern die Kraft und Sehnsucht, die sich in der Hamburger Hafenwelt manifestiert. Um dem gemeinen Betrachter, dem die mal raue, mal feine Schönheit dieser Welt in der Regel verborgen bleibt, als ein Faszinosum zu offenbaren, hat Nestler sein Label geschaffen: NCA (Nestrans Container Art) - - und in manch einer Möwensilhouette, die leitmotivisch durch Nestlers Bildwelt fliegt, mag man das andere "Ich" ihres Erzeugers mit ausmachen; denn Möwe und Künstler haben einiges gemeinsam: gelten sie doch als sturmerprobte Segelkünstler, die in langen Gleitflügen über den menschlichen Häuptern schweben und so ihrem eroberten Luftraum angehören.

Die Arbeit von Dieter Nestler steht in einer kunstgeschichtlichen Tradition, die sich an den Collagenumgang von Kurt Schwitters anlehnt; denn bei Schwitters wurde die künstlerische Praxis, Realgegenstände in Kunstwerke zu integrieren, um Ausschnitte der Wirklichkeit in die Kunst zu holen, zum Programm. "Der Abfall der Welt dient mir zur Kunst" schrieb er. Doch anders als Schwitters, der bewusst willkürlich seinen Abfall auswählte, um diese Willkür als totale Befreiung zu feiern, sucht Nestler seine Fundstücke bewusst aus dem Hafenkontext und will sie in seiner Arbeit auch wieder in diesem Kontext präsentiert sehen.

Seinen künstlerischen Emanzipationsprozess hatte Nestler in den 60er Jahren. Ab 1953 hatte der Amerikaner Robert Rauschenberg mit seinen "Combine Paintings" wieder an Schwitters angeknüpft, in dem er seine vom Abstrakten Expressionismus herkommende Malerei plötzlich mit Objekten kombinierte, die er als Material des Alltäglichen auswählte, um die Grenze zwischen Malerei und Skulptur einzureißen. Sein Credo "Ich bin der Meinung, dass ein Kunstwerk wirklicher ist, wenn es aus Teilen der wirklichen Welt gemacht ist", gilt als ein weiterer Versuch, die Lücke zwischen Kunst und Leben zu schließen – und war der Startschuss für das, was später in der Kunsthistorie als Pop Art und Environment bekannt wurde. Genau an diesem Punkt lässt sich der Hebel ansetzen, der es erlaubt, tiefer in den Geist der Bildwelt Dieter Nestlers einzudringen: Mit Mitteln der Malerei (die zum Teil in Trompe- l´oeil-Manier Oberflächen vortäuscht), der Collage und Assemblage soll es den Betrachtern von Nestlers Bildwelten schwer gemacht werden, Gegenstand und Kunstrealität eindeutig zu trennen. Integrierte Reproduktionstechniken wie Fotografie, Siebdruck und Sprühschablone unterstützen ihrerseits die angestrebte Wiedervereinigung.

Es gilt, eine Brücke zu schlagen, die sich von der Kunstwelt mitten ins Herz der Hafenwelt (und wieder zurück) spannt. Es gilt weiter, die eine Lebenswirklichkeit zu fassen, die sich in all ihren Erscheinungsformen, ob auf dem Werftgelände oder an der Galeriewand, zeigt; und ein Gefühl für die Überlagerung von Kunst und Leben zu erfahren. Der unkritische Impetus der Pop Art (Sieh hin! Und habe Spaß!) findet sich dabei auch in Arbeiten von Dieter Nestler; seine Kunstwerke grüßen vom Randbereich der Konsumgesellschaft, von einem Ort der Zwischenwelt, irgendwo zwischen übler Maloche und dem großen Geld, das sich damit machen lässt.

Allein Nestlers jüngstes Motiv, der Anker, weist auf ein Symbol des Glaubens und – obwohl gelichtet – auf die Möglichkeit des Verweilens, einen Platz der Hoffung, einer Ruhe vor dem nächsten Sturm.

Arne Rautenberg